„Kinder suchtkranker Eltern fallen durch das Hilfenetz“
Diözesan-Caritasverband fordert leicht zugängliuches Beratungsangebot
Dann muss der Neunjährige seine kleine Schwester aus dem Kindergarten abholen, sie am Nachmittag beaufsichtigen, Abendessen richten, sie zu Bett bringen und dann todmüde seine Hausaufgaben machen. Zwischendrin ruft er in der Firma seiner Mutter an, dass sie nicht zur Spätschicht kommen kann, weil sie wieder Migräne hat. Übermorgen hätte M. Geburtstag. Klassenkameraden kann er natürlich nicht zu sich einladen. Überhaupt tut er in der Schule alles, damit keiner merkt, was mit seinen Eltern los ist. Wenn Elternabend ist, müssen sie leider arbeiten. Und wenn der Lehrer sie zu einem Gespräch einlädt, muss M. sich eine Ausrede einfallen lassen, warum sie kurzfristig nicht kommen können.
Harter Alltag für ein Kind. „Das Leben ist eine einzige Sch…“, schreibt M. daher auf das Blatt seines Zeichenblocks, das er komplett schwarz angemalt hat. Da konnte er immerhin einmal an einer Freizeitgruppe teilnehmen, welche die Caritas für Kinder suchtkranker Eltern anbietet.
„Das Leben ist eine einzige Sch…“ hat die Caritas als Zitat auf ihr Plakat zur diesjährigen Frühjahrssammlung geschrieben. Denn M. ist keine Erfindung. Ihn gibt es wirklich und auch der drastische Satz stammt tatsächlich von ihm. Daher hat die Caritas die Aussage hinzugesetzt: „Auch das ist Realität!“
Hilfe nur in der Erziehungsberatung
„Mit dem Slogan der Caritas-Sammlung wollen wir auf eine Lebenswirklichkeit aufmerksam machen, die oft übersehen wird“, sagt die stellvertretende Diözesan-Caritasdirektorin Ursula Kundmüller. „In Deutschland leben rund 3 Millionen Kinder und Jugendliche mit suchtkranken Eltern zusammen. Das ist jedes 5. bis 4. Kind. Mehr als 30% der Kinder aus suchtbelasteten Familien werden selbst suchtkrank; sie sind die größte bekannte Sucht-Risikogruppe.“
„Und trotzdem“, kritisiert Kundmüller, „fallen diese jungen Menschen durch alle Hilfenetze. Für Kinder und Jugendliche mit suchtkranken Eltern oder mit eigenen Suchtproblemen gibt es keine spezifischen Beratungsstellen und Angebote.“
Michael Hösl, Referent für Jugendhilfe beim Diözesan-Caritasverband, kann dies bestätigen: „Die Suchtberatung ist nur für erwachsene Suchtkranke. Wer unter 18 Jahren alt ist, kann dort grundsätzlich nicht als Klient beraten werden. Auf die Kinder und Jugendlichen werden wir dann bestenfalls in der Jugendhilfe aufmerksam.“ Allerdings stellen sich hier mehrere Probleme: „Zum einen sind die meisten Fachkräfte in der Jugendhilfe nicht für Suchtproblematiken geschult. Zum anderen können wir mit Kindern aus mit Suchtproblemen belasteten Familien nur arbeiten, wenn die Eltern einsichtig sind und ihre Sucht bewältigen wollen und wegen ihrer Kinder zum Beispiel die Hilfe einer Erziehungsberatungsstelle suchen.
Präventionsprogramme für Kinder aus suchtbelasteten Familien
Einige Erziehungsberatungsstellen haben spezielle Angebote. Beim Caritasverband für die Stadt Bamberg und den Landkreis Forchheim führt die Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern „Wildfang“ durch. Es ist ein Präventionsprogramm für Kinder im Alter von 8 bis 12 Jahren, die in suchtbelasteten Familien aufwachsen. „Wir halten regelmäßige Gruppenstunden ab, bei denen die Kinder über ihre Probleme sprechen können“, erzählt Diplompsychologin Astrid Heyl. „Wir legen aber auch großen Wert auf Aktivitäten – drinnen wie draußen. Die Aktionen stärken das Selbstwertgefühl der Kinder und sie können Natur erleben.“
Hösl weist darauf hin, dass die Zahlen der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die mit Suchtproblemen in die Erziehungsberatung kommen, in den letzten Jahren wieder ansteigen. Auch insgesamt nehmen die Beratungen zu, die im Zusammenhang mit besonderen Belastungen durch Sucht oder psychische Erkrankungen stehen: bei den 7 Beratungsstellen im Erzbistum Bamberg von 494 im Jahr 2019 auf 649 vergangenes Jahr. Dabei ist, wie die Erfahrung der Suchtberatungsstellen belegt, Alkohol nach wie vor mit Abstand die häufigste Sucht; zunehmend sei man aber auch mit Spiel-, Internet- oder Pornographiesucht konfrontiert.
Forderung: niedrigschwelliges Beratungsangebot für Kinder und Jugendliche
Kundmüller fordert daher ein niedrigschwelliges Beratungsangebot sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Eltern. „Sowohl für junge Menschen, die in suchtbelasteten Familien leben, als auch für solche, die selbst ein Suchtproblem haben, benötigen wir einen leichteren Zugang zu Beratung. Die im Rahmen der Reform des Sozialgesetzbuch VIII angekündigte Ausweitung der Leistungen der Erziehungsberatung insbesondere für Kinder von Eltern mit psychischer Erkrankung oder Suchterkrankung muss dringend konkretisiert werden – auch durch Freistaat und Kommunen. Eltern können sich demnach in Notsituationen an eine Erziehungsberatung oder andere Stelle in ihrer Umgebung wenden und dort unbürokratisch – ohne Antrag und ohne Einschaltung des Jugendamtes – Hilfe zur Bewältigung ihres Alltags erhalten. Wir müssen wissen, was unter Notsituation zu verstehen ist, wie diese Hilfe aussehen soll und wie sie finanziert wird. Und diese Antworten müssen zeitnah kommen, denn – wie die Zahlen belegen – nimmt die Problematik zu.“